Mord in Genf - November im Jahr 1968

 

Der Mond hatte sich hinter Wolken versteckt, an diesem frühen Sonntagmorgen im November des Jahres 1968. Karim al-Bakari blickte von dem Matratzenlager, das Petra für sie beide arrangiert hatte, an die Decke des Studentenzimmers. Wie viel Zeit mochte vergangen sein, seit sich die beiden leidenschaftlich geliebt hatten? Eine Stunde oder zwei? Petra atmete gleichmäßig und verlangsamt, ihr Blutdruck und ihre Herzfrequenz waren gesunken, sie befand sich in der Tiefschlafphase. Warum betrachtete er die Dinge aus der Sicht eines Mediziners? Karim überlegte und er fragte sich, ob das der Duft der Liebe war, der ihn umgab. Er meinte sich aber gut zu beraten, wenn seine romantischen Gedanken einer sachlichen Betrachtungsweise weichen würden.

Auf der Kommode stand ein Wecker. Das Ticken des Sekundenzeigers zerriss die Stille und ermahnte Karim, dass er nicht mehr viel Zeit hatte. Seine Tasche war gepackt und wartete darauf, mit ihm am Vormittag nach Damaskus zu fliegen. Aber etwas Zeit blieb ihm noch an der Seite seiner Geliebten. Zeit, die er brauchte, sein bisheriges Leben zu betrachten, um seine Gefühle zu ordnen, um dann, nach Ablauf dieser kurzen Zeit, eine Entscheidung zu treffen.

Zusammen mit seinem Cousin Achmad hatte er in Syrien die Hochschulreife erworben. Für beide war schon früh klar gewesen, dass sie in Deutschland studieren wollten. Achmad ging nach Münster, seine Familie finanzierte das Studium. Karim bekam als Bester in seinem Abschlussjahrgang ein Stipendium und ein monatliches Taschengeld. Die Semesterferien verbrachten sie all die Jahre gemeinsam in Syrien. Achmad verliebte sich zuerst in das Münsterland und dann in Mechthild, die Karim bei seinem letzten Besuch im vergangenen Sommer in Damaskus dort kennenlernte. Achmad stellte Mechthild der Familie vor und eröffnete ihr gleichzeitig, dass sie heiraten und er in Deutschland bleiben würde. 

Karim betrachtete die schlichte Lampe, die an der Decke des Zimmers hing. Draußen, in der Nähe des Gebäudes, stand ein Baum und in dessen Nähe am Weg, der um das Gebäude führte, eine Laterne. Deren Licht schien durch die kahlen Äste des Baumes und zeichnete bizarre Muster an die Decke der Unterkunft. Petras Zimmer und die Einrichtungsgegenstände unterschieden sich nicht merklich von seiner Bleibe, stellte er fest. Der Geruch, den das Linoleum abgab, legte sich langsam wie ein Tuch auf das Paar, als wollte es den Duft des Beischlafs aufsaugen.

Im hereinfallenden Licht der Laterne betrachtete Karim die Frau, die in den flüchtigen Momenten ihrer Begegnungen seine Seele berührt hatte. Sie atmete schneller, ihre Augenlider bewegten sich, Petra träumte. Er kannte sie schon länger, war ihr immer wieder auf dem Unigelände begegnet. Er hätte es aber nie gewagt, sie anzusprechen. Warum sollte er auch? Karim war es immer klar gewesen, dass er eine Syrerin heiraten würde. Er hatte sich verpflichten müssen, nach dem Studium eine geraume Zeit für den syrischen Staat zu arbeiten. Das Leben in Deutschland verlief in anderen Bahnen, als in seiner Heimat. Darum konnte er sich nie vorstellen, dass eine deutsche Frau an seiner Seite in Syrien glücklich werden könnte. Und jetzt lag er neben Petra und musste seine Gefühle ordnen.

Am Donnerstagnachmittag hatten es beide eilig gehabt, das Uniklinikum zu verlassen. Petra hatte Karim überholt, als es ihr plötzlich einfiel, dass sie doch noch etwas vergessen zu haben glaubte. Sie stockte in der Bewegung, drehte sich um und Karim hatte Petra in seinen Armen. Es war ein Moment, der für die Ewigkeit geschaffen war. Karim hatte das Bedürfnis, diese Frau nicht mehr loslassen zu wollen. Plötzlich hatte sie es auch nicht mehr eilig. Zusammen verbrachten sie den Rest des Tages mit Gesprächen und lachten viel. Karim brachte Petra zu ihrem Wohnblock. Nachdem sie sich für Samstagabend verabredet hatten, küssten sie sich.

Am Freitag schwebte Karim wie auf Wolken bis zu dem Moment, als er ins Sekretariat gerufen wurde. Es wurde ihm ein Telegramm ausgehändigt. Sein Bruder teilte ihm darin mit, dass der Vater schwer erkrankt sei und dass sein Flugschein bis Sonntag am Schalter des Flughafens für ihn hinterlegt werde. Alles war schon geregelt, der Flug gebucht und von Damaskus aus bezahlt. Karim war im Universitätsklinikum als Arzt im Praktikum beschäftigt. 

Er hatte sein Staatsexamen im vergangenen Sommer gemacht und konnte noch zeitnah seine Dissertation vorbereiten. Karim zählte zu den letzten Studenten, die ihren Titel Dr. med. im Anschluss an das Examen erhielten. Eigentlich wollte er noch seinen Facharzt machen. Erst danach musste er endgültig nach Syrien zurückgehen. Petra plante, im nächsten Sommer, ihr Diplom zu machen. Für sie würden schon erschwerte Bedingungen für den Abschluss gelten.

Am Samstag ordnete Karim, was noch zu ordnen war. Er packte seine Reisetasche und räumte seinen Lebensmittelvorrat. Getrocknete Linsen hatte er von seiner letzten Visite in der Heimat mitgebracht. Er kaufte noch Yoghurt, Gurken und eine Tafel Schokolade als Mitbringsel, um sich dann auf den Weg zu Petras Unterkunft zu machen. Ein kleines Abschiedsessen wollte er ihr bereiten, mit ihr über alles sprechen. Das hatte er sich vorgenommen. Als Petra vor ihm stand, ihn anlächelte und nach einem zarten Kuss auf seinen Mund hereinbat, spürte er bereits, dass es schwierig für ihn werden würde. In der Etagenküche konnte er zumindest sein Vorhaben, für sie zu kochen, umsetzen.

Während die Linsen mit dem Reis gar kochten, erzählte er von Mjaddra, das immer freitags zubereitet wurde. Weil an diesem Tag gebadet wurde, die Männer zur Moschee gingen, die Frauen die Wäsche machten und es darum dieses einfache Gericht gab. Während sie aßen, schwiegen sie, auch noch, als sie im Anschluss gemeinsam die kleine Küche richteten. Karim nickte, als Petra ihm sagte, dass sie noch eine Überraschung für ihn habe, und folgte ihr den Gang entlang zu ihrem Zimmer. Sie öffnete die Tür und er sah, dass sie das schlichte Metallbett an die Wand gestellt und den Tisch davor gerückt hatte, damit es nicht umkippen konnte. Matratze und Kissen füllten den Raum aus. Petra zog ihn in das Zimmer und Karim blickte zur Lampe. Petra lachte leise und küsste ihn. ›Entspanne dich, wir machen nichts Verbotenes!‹, flüsterte sie in sein Ohr.

Dann gingen Petra und die Kraft, die zwischen seinen Lenden lag, eine Allianz ein und Karim ließ es einfach nur geschehen. Sie küssten sich leidenschaftlich, während sie ihre Kleidung abstreiften. Er ließ sich auf das Lager drücken, ließ sie gewähren, betrachtete ihren Körper, ihre wippenden Brüste, hielt sie mit seinen Händen an den Unterarmen, als Petra für beide gleichzeitig den Höhepunkt ihrer Lust bereitete. Petra bäumte sich auf, warf ihren Kopf in den Nacken und stöhnte ihren Orgasmus zur Lampe hin, die Karim jetzt nicht müde wurde zu betrachten. Sein Blick folgte den Abhördrähten, die dezent unter dem Türstock weiterführten, kaum sichtbar unter der Tapete zu dem Lichtschalter gingen und dort verschwanden. Ganz oben in dem Plattenbau lag die Stasi-Wohnung, die in keinem Lageplan verzeichnet war. Ob der Abhörer noch dort saß? Oder lief das Tonband, das alles aufzeichnete?

Es gab kein Zimmer in den Studentenheimen, das nicht verdrahtet war. Das wusste Karim von Anfang an. Gestört hatte es ihn besonders an den Freitagen, wenn er seine Gebete verrichtete. Er fand es ungehörig, dass ein fremder Mensch, noch dazu ein ungläubiger, seinen Gebeten lauschen konnte. Wenn er mit einem Landsmann persönliche Dinge besprechen wollte, ging er mit ihm spazieren. So konnte er sicher sein, dass private Dinge auch privat blieben. Seine Landsleute sahen diese ständige Überwachung eher locker, die meisten hatten Freundinnen. Für Karim war dieser Eingriff in seine Privatsphäre allerdings Grund genug, in all den Jahren in diesem, für ihn befremdlich bleibenden Land, auf eine Beziehung zu verzichten. Jetzt war es doch geschehen. 

Ein Gefühl von Scham überkam Karim. Für ihn war die Liebe etwas Heiliges, etwas Besonderes. Dieses Besondere sah er beschmutzt. Auf dem Zenit ihrer Lust hatte Petra den Ausdruck ihrer Liebe nicht ihm, sondern der Stasi geschenkt, als wollte sie damit kundtun, dass selbst die dem Staat gehören würde. Als könnte die Vereinigung zweier Menschen nur staatlich reglementiert funktionieren.

Das Ticken des Sekundenzeigers mahnte Karim, dass der Moment nicht für die Ewigkeit gemacht war. Petra atmete wieder gleichmäßig und verlangsamt. Es war Zeit zu gehen, seinen Entschluss hatte er gefasst. Vorsichtig und leise stand er auf, legte seine Kleidung an und verließ das Zimmer. 

In seiner Bleibe angekommen, schrieb er zwei Briefe, einen an den Hauswart. Das Geld für die kommende Miete legte er in den Umschlag. Im zweiten Brief erklärte er Petra die plötzliche Erkrankung seines Vaters als Grund seiner plötzlichen Abreise und entschuldigte sich. 

Er verließ sein Zimmer, verschloss es und legte den Schlüssel in den Brief des Hauswarts. Im Flur hielt er kurz inne, versuchte, ein Molekül von Petras Duft auf den Poren seiner Haut zu erahnen. Aber er roch nur Linoleum, nahm nur die künstlichen Materialien wahr, aus denen alles bestand. Der Geruch zog durch die Flure und roch nach Stasi, Bespitzelung und Chemie. Es war der Geruch der Depression. Karim verließ den Plattenbau und warf die Briefe in die entsprechenden Postkästen. 

Der Mond hielt sich immer noch hinter Wolken versteckt, als sich Karim al-Bakari auf den Weg zum Flughafen begab, um das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik für immer zu verlassen.



Tuna von Blumenstein
Mord in Genf

Der Krimi ist unter der ISBN 978-3-8482-2545-3 überall im gut geführten Buchhandel erhältlich und kostet 12,90 Euro.

Die Handlung in diesem Buch ist fiktiv, die Namen frei erfunden.